Seit wir mit Vicky reisen, sind wir endlich wieder in Reichweite eines Reiseführers in Buchform. Darin liest man von allerlei Tricks und Betrügereien, vor denen man sich in Acht nehmen soll. In vielen Fällen gelingt das, aber auf irgendwas fällt man am Ende doch immer rein. Heute war dieser Tag. Es war nicht so, als hätte es keine Warnsignale gegeben, aber der leise Warnton brummte so dezent in unseren Hinterköpfen, dass es einfach war, ihn zu ignorieren. Und wie so oft, setzten sich die Puzzleteile erst im Nachhinein zu einem Ganzen zusammen.

Warnsignale

Alles begann damit, dass wir unsere Weiterfahrt von Copacabana in Bolivien nach Cusco in Peru organisieren mussten. Da es hieß, die Strecke sei malerisch, entschieden wir uns für den 9-Uhr-Tagesbus. Von den diversen Angeboten, die wir einholten, gefiel uns das von der Firma Titicaca am besten, auch wenn es nicht das günstigste war, aber das Office sah ordentlich aus und der freundliche Bolivianer hatte einen akkuraten Sitzplan, auf dem er uns direkt eintragen wollte. Der dazugehörige Bus vor der Tür hatte zwar kein Profil mehr auf den Reifen, aber der freundliche Mitarbeiter versicherte uns, Morgen käme ein anderer Bus und für die Hauptstrecke von Puno nach Cusco bekämen wir ohnehin den schicken Doppeldecker vom Prospektfoto. Hier schrillte zum ersten Mal die Warnsirene in Vickys Kopf, die gelesen hatte, dass Titicaca nicht den besten Ruf hatte, was sie in diesem Moment aber für sich behalten hatte.

Da wir kein Bargeld mehr hatten, mussten wir vor der Buchung erst noch zum ATM. An dieser Stelle machte sich in Dominik eine ungemütliche Vorahnung breit: War es klug, einen Mittelstreckenbus zu buchen, den wir erst beim Umsteigen sehen würden, wenn wir ganz woanders wären und nicht mehr reklamieren könnten? Wir diskutierten kurz, aber – wie so oft – aus Mangel an Optionen, buchten wir doch bei Titicaca und hofften auf das beste …

Willkommen in Peru

Am nächsten Morgen lief zunächst alles planmäßig: der Bus fuhr pünktlich, die Reifen hatten Profil und der Grenzübertritt nach Peru ging zügig.

Etwas irritierend war der bolivianische Busbegleiter, der die Fahrgäste hartnäckig auf schnellem Spanisch zu organisieren versuchte. Geschäftstüchtig wollte er uns gleich ein Zimmer in Cusco vermitteln. Wir wissen nicht genau, ob der weitere Reiseverlauf sich so entwickelte, weil wir sein Angebot ablehnten… Jedenfalls machte er irgendwann ein knitteriges Gesicht und meinte, wir seien ab Puno auf den Nachtbus gebucht, was für uns eine Wartezeit von acht Stunden bedeutet hätte. Titicaca habe gar keinen Anschlussbus nach Cusco. Außer uns war auch Sandra, ebenfalls eine Deutsche, betroffen. Glücklicherweise hatten wir in der Zwischenzeit einen Brasilianer gefunden, der für uns übersetzen konnte. Es klärte sich alles, als der tüchtige Organisator meinte, er habe noch einen Bus für uns gefunden. Libertad hieß das Busunternehmen, klang ja ganz gut.

Buswechsel in Puno

Beim Einfahren in den Busbahnhof von Puno allerdings leuchtete uns schon der schrottig-blaue Libertad-Bus fröhlich entgegen. Sein auffallendstes Merkmal waren zwei faustgroße Löcher in der Frontscheibe oben. Aber auch ansonsten hob er sich von seinen ordentlich aussehenden Nachbarn durch besondere Klapprigkeit ab.

Von Warnsignalen war an dieser Stelle gar nicht mehr zu sprechen, uns packte das blanke Entsetzen, was unglücklicherweise dazu führte, dass wir in eine funktionale Schockstarre fielen. Wie die Lämmer zur Schlachtbank liefen wir hinter dem Busbegleiter her hin zum Schalter von Libertad.

Reisen auf Peruanisch

Als wir vorm Bus die einzigen Touristen waren, dämmerte es uns langsam. Entgeistert starrten wir das Libertad-Busungetüm an. Sehenden Auges verluden wir unser Gepäck ganz hinten ins Gepäckfach, videodokumentiert vom Busfahrer – eine Gepäckquittung gab es nicht, und stiegen ein. Oben, ganz hinten (immerhin würde uns die Frontscheibe hier beim Zersplittern nicht treffen) bei 35 Grad wurde uns erst das ganze Ausmaß unserer Touristenmisere bewusst. Die Puzzleteile setzen sich zusammen.

Eine hektische Diskussion brach aus, während die ausschließlich peruanischen Mitreisenden gemütlich eine Unmenge von Bündeln und Taschen in die Gepäckfächer stopften. Sollten wir den Bus verlassen? Einen Aufstand machen? Den Nachtbus nehmen? Eine Nacht in Puno verbringen? Noch bevor wir zu einem Ergebnis kommen konnten, setze sich das blaue Ungetüm in Bewegung. Damit war uns Schicksal besiegelt: wir würden peruanisch reisen!

Als die Frauen neben uns ihr Mittagessen, was aussah wie Schweinshaxe mit Soße und einen sehr intensiven Geruch verströmte, aus ihrer Styroporbox holte, uns aus dem einzig funktionieren Lautsprecher im Bus, der genau über uns war, laute peruanische Volksmusik anschrie, war unsere Stimmung am Tiefpunkt. Von da an ergaben wir uns unserem Schicksal, was vielleicht auch an dem Sauerstoffmangel lag, weil – wie sollte es anders sein – die Lüftungsanlage nicht funktionierte.

Gelegentlich hielten wir an, um mitten in der Pampa weitere Leute mit weiteren Bündeln oder Essensverkäuferinnen ein- oder auszuladen. Kurz vor Juliaca stieg eine Schulklasse zu, die laut und begeistert an der Frontscheibe klebte und die Fahrt genoss, als wäre es die erste Busfahrt ihres Lebens.

Mann mit Tonne

Mein persönliches Highlight erwartete uns am Busbahnhof von Juliaca: als wir dort hielten, stieg ich aus, um dem Busfahrer irgendwie darum zu bitten, die Musik leiser zu stellen. Ich fand ihn im Gepäckfach und davor stand ein kleiner, alter Mann mit – kein Scherz – einer Tonne! Eine klassische blaue Regentonne mit schwarzem Deckel, wie sie bei meinen Eltern zu Hause neben der Garage steht. Als würde jeden Tag jemand mit Tonne reisen, lud der Fahrer stoisch das Monstrum irgendwie ins Gepäckfach.

Mit genau so einer Tonne stieg der alte Mann in Juliaca zu.

Mit genau so einer Tonne stieg der alte Mann in Juliaca zu.

Mehrfach hielten wir an, damit die beiden Fahrer Wasser von Brunnen und Tümpeln schöpfen konnten, das offenbar zur Kühlung des Motors erforderlich war. Nach fünf Stunden Fahrt, sämtliche Einheimischen zogen sich Jacken und Pullover an, die Temperatur blieb konstant bei 35 Grad bei Null Frischluftzufuhr, gelang es uns schließlich kurz vorm Ersticken mit vereinten Kräften ein Fenster zu öffnen.

Wasser für den Bus

Wasser für den Bus

Bei jeder Gelegenheit öffnet der Bus die Klappe

Bei jeder Gelegenheit öffnet der Bus die Klappe

Polizeikontrolle

Wenig später gerieten wir bei einem kleinen Dorf in eine Polizeikontrolle, bei der vier unterschiedlich uniformierte Männer das Gepäckfach unter die Lupe nahmen. Dabei krochen die zwei hilfssheriffsmäßig grau-uniformierte ins Gepäckfach hinein, während die schwarz-uniformierten Polizisten daneben standen und die Aktion überwachten. Der ganze Bus klebte derweil an der Fensterscheibe. Als die Hilfssheriffs zwei Bündel auf die Straße beförderten, rief irgendwer von vorne eine Bündelbeschreibung durch den Bus und eine Frau rannte aufgeregt nach draußen, um dem Aufschneiden des Bündels mit einem Teppichmesser beizuwohnen. Ob die Männer nach Kokain oder nach etwas anderem suchten, blieb unklar. Irgendwann ging die Klappe des Gepäckfachs zu, der Bus fuhr langsam an, stoppte nach 5 Metern, die Klappe ging wieder auf – einer der Hilfssheriffs sprang heraus und wir konnten die Fahrt fortsetzen.

Bereits eine halbe Stunde bevor wir nach zehnstündiger Fahrt ankamen, machten alle sich zum Aussteigen bereit. Die zwei Frauen neben uns fingen an, ihre 20 Bündel, Puh-der-Bär-Deckenpakete, Jacken und kleinen bunten Taschen, die sie über den gesamten Bus verteilt hatten, einzusammeln und zu größeren Bündeln zusammenzuschnüren. Zum Schluss beförderten sie noch einen Schnellkochtopf zutage. Die beiden verstopften derart den Gang, dass wir erst ganz zum Schluss aussteigen konnten.

Alles da?

Am stockdunklen Gepäckfach ging es derweil zu auf auf dem Viehmarkt. Aufgeregt und drängelnd riefen die Peruaner dem sich im Gepäckfach befindenden Fahrer Beschreibungen ihrer Bündel zu: „bolsa pink“, „bolsa verde“, „bolsa azul“! Wir schickten ein Stoßgebet zum Himmel und leuchteten mit unseren Taschenlampe ins Fach, das sich nach und nach leerte. Schließlich kam Dominiks Tasche zum Vorschein, dann Sandras und Vickys Rucksäcke. Von meiner Tasche keine Spur, als das Fach praktisch schon leer war. Dominik drehte eine Runde um den Bus, um zu sehen, ob mein Rucksack irgendwo anders aufgetaucht war. Nichts. Mir lief der Schweiß kalt den Rücken hinunter. Dann, im hintersten Winkel, in der letzten Ecke, schälten sich langsam und auf dem Kopf stehend die Konturen meines Osprey-Rucksackes heraus. Dankbarkeit war kein Ausdruck für das, was ich in dem Moment fühlte. Als wir uns dann schließlich zum Taxi unserer Wahl durchgekämpft hatten und mit Sandra unterwegs zum Hostal Frankenstein waren, machte sich neben der Erschöpfung auch langsam die Erleichterung breit: alles nochmal gut gegangen.